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Chillen und Lernen: Was Jugendliche an der Freizeit in Schulen schätzen

22.05.2025 Seit 2015 bieten Tagesstrukturen an Sekundarschulen in Basel-Stadt Jugendlichen eine flexible, freiwillige Nachmittagsbetreuung an. Doch wie nutzen die Schüler*innen dieses Angebot, und welchen Mehrwert sehen sie darin? Eine neue qualitative Studie gibt Einblicke in die Perspektiven der Jugendlichen und eröffnet Handlungsspielräume für die Soziale Arbeit.

Das Wichtigste in Kürze

  • Eine aktuelle Studie untersucht die Nutzung der Tagesstrukturen an Sekundarschulen in Basel-Stadt aus der Perspektive der Jugendlichen.

  • Zentrale Erfolgsfaktoren der Nachmittagsangebote sind vertrauensvolle Beziehungen zu Betreuungspersonen, flexible Regeln und Raum für Selbstbestimmung.

  • Ein grosses Potential für die Soziale Arbeit: Durch partizipative Ansätze und einen gezielten sozialarbeiterischen Input können Tagesstrukturen weiterentwickelt werden. 

Mit der Einführung der freiwilligen Tagesstrukturen für Sekundarschüler*innen im Kanton Basel-Stadt wurde 2015 ein innovatives Konzept umgesetzt. Es bietet tägliche Betreuung von 12 bis 17 Uhr und umfasst Mittagessen sowie ein breites Freizeitprogramm. Anders als in vielen anderen Schweizer Modellen der Ganztagsschule erfordert dieses Angebot keine Anmeldung und ist – bis auf Essens- und Ausflugsbeiträge – kostenfrei. Es kann von Jugendlichen auch spontan besucht werden. Doch welche Bedeutung hat dieses Angebot für Jugendliche? Eine qualitative Studie, die auf die Perspektive der Jugendlichen fokussiert und die BFH-Dozentin Emanuela Chiapparini und Andrea Koller, die Programmverantwortliche für Basel-Stadt, durchgeführt haben, beleuchtet diese Fragen (Chiapparini & Koller, 2025).

Englischsprachiger Original-Artikel

Mehr als Betreuung 

Die untersuchten Tagesstrukturen gehen weit über eine reine Betreuung hinaus. Sie bieten Jugendlichen nicht nur einen geschützten Raum nach dem Unterricht, sondern auch Gelegenheiten für soziale Interaktion, Kompetenzentwicklung und persönliche Entfaltung. Im Gegensatz zur Schule bieten Tagesstrukturen dabei keine formale Bildung, sondern ein non-formales und informelles Lernsetting. Die beiden genannten Lernsettings zielen insbesondere auf die Förderung sozialer und persönlicher Kompetenzen sowie auf die Stärkung der Teilhabe an politischen und gesellschaftlichen Prozessen ab (z. B. Chiapparini, 2022).
Die Beziehung zu den Betreuungspersonen erweist sich für das Angebot als zentral. Diese agieren nicht nur als Aufsichts-, sondern auch als Vertrauenspersonen und Begleiter*innen im Alltag. Gespräche helfen den Jugendlichen, ihre Gedanken zu ordnen und ihre alltäglichen Herausforderungen zu reflektieren. Spielerische Interaktionen stärken diese Beziehung zusätzlich. Ein Beispiel aus einer Beobachtungssitzung: Ein Betreuer fordert eine Gruppe Jugendlicher zu einer Partie Tischfussball heraus. Die Jugendlichen lachen, feuern sich gegenseitig an. Als ein Spieler verliert, klopft die Betreuungsperson ihm auf die Schulter und sagt: «Beim nächsten Mal revanchierst du dich!» In solchen Momenten entstehen Nähe und Vertrauen, die weit über das Spiel hinauswirken.

Die Peer-Dimension

Das Angebot hat auch eine soziale Dimension unter den Gleichaltrigen (Peers). Viele Jugendliche nutzen die Nachmittagszeit, um Freundschaften zu pflegen, gemeinsam zu entspannen oder neue Kontakte zu knüpfen. Eine Schülerin berichtete: «Nach der Schule habe ich keinen Bock, gleich nach Hause zu gehen. Hier kann ich mit meinen Freundinnen zusammen sein, quatschen und manchmal machen wir zusammen Hausaufgaben.» Die lockere Atmosphäre ermöglicht es den Jugendlichen, nebenbei soziale Kompetenzen zu entwickeln. Beispielhaft dafür ist die Situation, als zwei Jugendliche beim Billardspielen in Streit geraten. Einer schlägt verärgert den Queue auf den Tisch. Ein anderer greift ein und sagt: «Hey, chill mal. Ist doch nur ein Spiel.» Der aufgebrachte Jugendliche atmet tief durch, nickt und spielt weiter. Solche Momente zeigen, wie Jugendliche gemeinsam spielerisch lernen, Frustrationen zu bewältigen und Konflikte zu deeskalieren. Solche informellen Lernprozesse finden meist beiläufig statt, haben aber langfristige, positive Wirkungen. In diesem Beispiel haben alle Beteiligten etwas über Frustrationstoleranz und Kommunikationsfähigkeiten gelernt.

Die Nachmittagsangebote in Basel-Stadt sind mehr als ein Ort der Betreuung – sie bieten Raum für soziale Entwicklung, informelles Lernen und die Förderung persönlicher Kompetenzen. Für die Soziale Arbeit liegt hierin ein grosses Potenzial.

  • Prof. Dr. Emanuela Chiapparini Leiterin Institut Kindheit, Jugend und Familie

Nebenbei Kompetenzen entwickeln

Neben sozialen Fähigkeiten erwerben Jugendliche durch die Tagesstrukturen auch praktische Kompetenzen. Einige nutzen die Zeit gezielt für schulische Aufgaben. Ein Jugendlicher berichtet: «Ich kann mich zu Hause nicht konzentrieren. Hier setze ich mich mit A. (Betreuungsperson) hin und mache Mathe. Wenn ich nicht weiterweiss, hilft sie mir, aber sie macht es nicht für mich.» So ein niederschwelliges Lernumfeld entlastet nicht nur die Familien, sondern stärkt auch das Selbstvertrauen der Jugendlichen. Ein weiteres Beispiel ist die Übernahme kleiner Verantwortlichkeiten. Ein Betreuer berichtet: «Es gibt immer ein paar Jugendliche, die freiwillig helfen, das Mittagessen zu organisieren oder nachher aufzuräumen.» Diese scheinbar kleinen Tätigkeiten fördern Verlässlichkeit und Eigenverantwortung.

Die Untersuchung belegt, dass die Nachmittagsangebote mehr sind als eine Betreuungslösung – sie sind soziale Lernräume, in denen Jugendliche Beziehungen aufbauen, Freundschaften pflegen und nebenbei wichtige Alltagskompetenzen entwickeln. Gerade weil die Jugendlichen selbst entscheiden können, ob sie das Angebot nutzen oder nicht, entfaltet es sein volles Potenzial als Raum, den Jugendliche aktiv gestalten.

Was stärkt das Angebot?

Die Studie fragt nicht nur ab, wie die Jugendlichen das Angebot wahrnehmen, sondern identifiziert auch zentrale Rahmenbedingungen, die die Nutzung der Tagesstrukturen beeinflussen (vgl. Oelerich & Schaarschuch, 2005). Positiv wirken sich eine offene, freundliche Haltung des Personals und flexible Regeln aus. Eine klare, leicht verständliche Angebotsstruktur und passende Räume fördern ebenfalls die Teilnahme. Hingegen wurden Kontrollmassnahmen, wie etwa ein Handyverbot, von Jugendlichen kritisch betrachtet. Auch begrenzte Öffnungszeiten oder wenig abwechslungsreiche Aktivitäten können die Attraktivität mindern.
Die Jugendlichen selbst entwickeln unterschiedliche Strategien, um die Angebote zu nutzen. Während einige bewusst kooperieren und aktiv Unterstützung suchen, vermeiden andere Konfrontationen mit Regeln oder Betreuungspersonen. Beide Strategien verdeutlichen, wie wichtig es ist, dass das Personal sensibel auf individuelle Bedürfnisse eingeht und genügend Spielraum für Selbstbestimmung lässt. Zudem artikulieren einzelne Jugendliche sehr klar den Nutzen für ihre Persönlichkeitsentwicklung: «Ich bin sehr aus mir herausgewachsen, (…) auch ein bisschen durch die Unterstützung (der anderen und der Fachpersonen).»

kurze, prägnante Zusammenfassung, was auf dem Bild zu sehen ist und das Linkziel, falls Bild verlinkt ist.
Viele Jugendliche nutzen die Zeit im «Tagi», um Freundschaften zu pflegen.

Perspektiven für die Soziale Arbeit

Die Ergebnisse der Studie eröffnen wertvolle Perspektiven für die Weiterentwicklung von Tagesstrukturen über Basel hinaus. Zentrale Herausforderungen, ein solches Angebot ausserhalb von Basel-Stadt zu entwickeln, liegen darin, ein Gleichgewicht zwischen schulischen Rahmenbedingungen und den Bedürfnissen der Jugendlichen zu schaffen. Gleichzeitig bietet das Modell Gelegenheiten, Chancengerechtigkeit zu fördern, indem es allen Jugendlichen – unabhängig von ihrer sozialen Herkunft – eine kostenfreie, niederschwellige Teilnahme ohne Anmeldung ermöglicht. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist die Qualität der Angebote. Diese ist eng mit der Qualifikation und Haltung des Personals verknüpft. Die Beziehungsgestaltung zwischen Betreuungspersonen und Jugendlichen erweist sich als zentraler Hebel, um die positiven Effekte der Tagesstrukturen zu maximieren.

Es kann festgehalten werden: Die Nachmittagsangebote in Basel-Stadt sind mehr als ein Ort der Betreuung – sie bieten Raum für soziale Entwicklung, informelles Lernen und die Förderung persönlicher Kompetenzen. Für die Soziale Arbeit liegt hierin ein grosses Potenzial: Durch partizipative Ansätze und einen gezielten sozialarbeiterischen Input können Tagesstrukturen weiterentwickelt werden, um den Bedürfnissen der Jugendlichen besser gerecht zu werden. Die vorliegende Studie legt den Grundstein für weitere Evaluationen praxisorientierter Massnahmen. Ebenfalls sollten zukünftig verstärkt Kinder und Jugendliche selbst in den Entwicklungsprozess von Tagesstrukturen einbezogen werden. Schliesslich sind sie die Adressat*innen und aktive Nutzer*innen der Angebote und bestimmen die Wirkung jener Angebote mit (Staudner, 2018). 

Literatur

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