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Den Begriff Inklusion für die Praxis nutzbar machen
28.05.2025 Auf dem Weg zu einer stabilen Gesellschaft ist Inklusion ein zentraler Begriff. Doch was bedeutet er im Kontext der Sozialen Arbeit? Gemeinsam mit dem Hilfswerk HEKS machte sich ein Forschungsteam der BFH auf den Weg, dies herauszufinden. Ein Gespräch gibt Einblick.

Das Wichtigste in Kürze
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Beschäftigt sich eine Institution mit Inklusion, kann das ihre Projekte verändern und zu neuen Formen der Verbindung mit den Teilnehmenden führen.
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Für das Hilfswerk HEKS wurden Inklusionskriterien erarbeitet, dazu gehören Begegnung auf Augenhöhe, Partizipation und Antidiskriminierungsarbeit.
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Die Analyse durch die BFH verschaffte HEKS eine solide Grundlage für die Zukunft.
Warum befasst sich das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (HEKS) mit Inklusion?
Nina Vladović: Mit der «Strategie 2023–2027» wurde Inklusion zu einem Schwerpunkt von HEKS. Dabei haben wir uns zum Ziel gesetzt, ein organisationsspezifisches Verständnis von Inklusion zu entwickeln. Basierend darauf wollten wir Potenziale identifizieren, wo wir unsere Arbeit weiterentwickeln können. Es war uns wichtig, dies in einem gemeinsamen Prozess mit allen Mitarbeitenden zu machen und das vorhandene Wissen miteinfliessen zu lassen.
Welchen Effekt hat dies heute auf die Arbeit von HEKS?
Vladović: Unsere Integrationsprogramme unterstützen benachteiligte Personen dabei, ihre Lebensumstände zu verbessern und Zugang zu verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu erhalten. Wir wollen jedoch, dass unsere Arbeit noch umfassender wirkt.
Um die Lebensrealitäten benachteiligter Gruppen nachhaltig zu bessern, müssen neben der individuellen Unterstützung auch strukturelle Rahmenbedingungen verändert werden. Dazu muss Anti-Diskriminierungsarbeit geleistet werden. Dies beeinflusst unsere Programmarbeit und unsere politische Arbeit, die wir ausbauen wollen. Zudem überprüft HEKS auch seine Rolle als Arbeitgeber kritisch und arbeitet daran, die eigene Kultur und die Prozesse inklusiver zu gestalten.
Wie die BFH und HEKS ein Whitepaper zum Thema «Inklusion» erarbeitet haben
Für das Projekt stellten die Forschenden gemeinsam mit Studierenden die Theorie zusammen und verbanden sie in mehreren Etappen mit der Praxis. Während des Prozesses stand dem BFH-Team seitens HEKS ein Soundingboard zur Seite, mit dessen Mitgliedern es einen Leitfaden mit offenen Punkten ausarbeitete. Um diese zu klären, besuchten die Forschenden zwölf HEKS-Programme in acht Städten in der ganzen Schweiz und befragten jeweils eine programmverantwortliche, eine angestellte und eine teilnehmende Person. Anhand der Antworten identifizierten sie mit einem Analysetool die wichtigen Themen. Dann diskutierten die Forschenden die Themen in Fokusgruppen, bestehend aus Mitarbeitenden und Teilnehmenden.
Zum Schluss wurden die erhobenen Daten nochmals analysiert und die Essenz der Inklusion für HEKS herauskristallisiert. Diese Essenz umschreibt das Whitepaper in acht Kriterien. Dazu gehören unter anderem Augenhöhe, politische Teilhabe und gesellschaftspolitische Arbeit.
Diese Unterscheidung zwischen ‹wir› und den ‹anderen› ist ein wichtiger Punkt. (…) Ein wesentlicher Bestandteil der Inklusionsarbeit ist, diese Binarität zu hinterfragen und zu durchbrechen.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit der BFH?
Vladović: Wir wollten eine externe Begleitung, um diesen Prozess zu unterstützen und auf diesem Weg wertvolle fachliche Empfehlungen zu erhalten.
Claske Dijkema, Sie haben zusammen mit Áron Korózs HEKS dabei begleitet. Was verändert sich, wenn eine Organisation sich der Inklusion annimmt?
Claske Dijkema: Das Wichtigste in diesem Prozess ist, dass sich alle Beteiligten zu fragen beginnen: Wer sind «wir», und wer sind die «anderen»? Das «Wir» bei HEKS sind die Mitarbeitenden, die Freiwilligen und, wie sich im Prozess zeigte, die Teilnehmenden – sie gehören zunehmend auch dazu. Diese Verschiebung in der Wahrnehmung wurde durch die Beschäftigung mit Inklusion angestossen. Das verstärkte das Bewusstsein, was passiert, wenn nicht für, sondern mit den Teilnehmenden gearbeitet wird. Leider sagen wir alle gerne: Integration ist etwas, was diejenige Person leisten muss, die etwas anders ist als der Mainstream, zum Beispiel, weil sie neu in der Schweiz ist. Aber integrieren ist ein gegenseitiger Prozess, an dem auch die Aufnahmegesellschaft aktiv beteiligt ist. Darum sprechen wir von Inklusion. Mit diesem Begriff kommt die Erkenntnis dazu, dass marginalisierte Personen auch Möglichkeiten erhalten müssen, um mitmachen zu können.

Welche Auswirkungen haben Sie in den Programmen festgestellt?
Dijkema: Die Mitarbeitenden fragten sich, wie sie den Teilnehmenden mehr Mitgestaltung ermöglichen. Ein Beispiel für den Effekt, den das haben kann, ist das Genfer Projekt «Nouveaux Jardins». HEKS stellt Zweiergruppen Gärten zur Verfügung. Früher wurden die Teilnehmenden, die ausschliesslich Migrationshintergrund hatten, von einer angestellten Fachkraft gemeinsam mit Freiwilligen begleitet. Heute liegt die Rolle von HEKS darin, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund über ihr gemeinsames Interesse zusammenzubringen. Dies fördert eine neue Form der Verbindung zwischen den Teilnehmenden. Das Konzept funktioniert gut, und ein Teil der Betreuung, die zuvor von HEKS übernommen wurde, entfällt. Ein positiver Nebeneffekt ist die Reduzierung der Projektkosten.
Vladović: Diese Unterscheidung zwischen «wir» und den «anderen» ist ein wichtiger Punkt. Sie beeinflusst die Haltung, die die Grundlage für das Handeln und die praktische Arbeit bildet. Ein wesentlicher Bestandteil der Inklusionsarbeit ist, diese Binarität zu hinterfragen und zu durchbrechen. Es war zentral, das gemeinsam mit möglichst vielen Menschen der Organisation zu tun. Sie haben aktiv am Prozess teilgenommen, ihre Haltungen reflektiert und sich intensiv Gedanken darüber gemacht, wie neue Denkansätze in konkretes Handeln umgesetzt werden können und wie dies die Arbeit von HEKS weiterentwickeln kann.

Wie lassen sich die Ergebnisse des Projekts zusammenfassen?
Áron Korózs: Selbst für die spezifische Organisation HEKS konnten wir den Begriff Inklusion nicht in zwei Sätzen klar definieren. Das zeigt die Komplexität der Inklusion. Wir arbeiteten mit Kriterien, die für Inklusion stehen. Dazu gehören Augenhöhe, Partizipation, gesellschaftspolitische Arbeit, Antidiskriminierungsarbeit, politische Teilhabe oder Handlungsspielräume. Diese Kriterien haben wir definiert, ausgearbeitet und mit Beispielen aus der Arbeit von HEKS untermalt. Das ist auch die Stärke des Papers, das nun HEKS vorliegt: Es macht den Begriff für die Basisarbeit und die Teilnehmenden fassbar.
Vladović: Die Kriterien, die ihr erarbeitet habt, sind für unsere Arbeit sehr wichtig. Sie haben Inklusion für uns greifbarer gemacht. Auch wenn es komplex ist, gibt es einen gemeinsamen Nenner: Es geht um Ausgrenzung, eingeschränkten Zugang zu Ressourcen und Teilhabemöglichkeiten. Inklusion ist eine wichtige Strategie, um diese Ungerechtigkeit zu überwinden.
Welches Kriterium ist aus Ihrer Sicht für HEKS besonders interessant und warum?
Vladović: Besonders wichtig finde ich die Antidiskriminierungsarbeit und die echte Partizipation. Sie sind eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Deshalb wollen wir in unserer Arbeit einen stärkeren Fokus darauflegen. Spannend finde ich aber auch das Beispiel der politischen Teilhabe. Oft wird Personen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft gesagt, sie könnten politisch teilhaben, wenn sie sich integrierten. Aber einige sind hier aufgewachsen oder sogar geboren und dennoch haben sie diese Rechte nicht. Dieses Beispiel macht klar, dass es neben der Integration auch anderer Konzepte bedarf, zum Beispiel der Inklusion.
Korózs: Am Beispiel der politischen Teilhabe kann man auch zeigen, dass Inklusion nicht für alle dasselbe bedeutet. Im Migrationskontext hat Inklusion viel mit Mitbestimmung, Beachtung und Sichtbarkeit zu tun. Im Kontext von Suchtproblematiken hingegen ging es im Projekt beispielsweise mehr um die Wohnungssuche. Der Zugang zum Wohnungsmarkt ist beschränkt, wenn jemand aufgrund einer starken Sucht keinen Job hat. Selbst wenn eine Person mit Suchterkrankung in einem einigermassen sicheren Wohnverhältnis ist, könnte sie möglicherweise wegen gewisser Verhaltensmuster von den Nachbar*innen diskriminiert werden. Eine Person, die ich für das Projekt interviewt habe, wollte einfach ihre Ruhe, ein Dach über dem Kopf und vor allem wenig Menschenkontakt. Da heisst Inklusion etwas ganz anderes als im Kontext von Flucht und Migration.
Dijkema: Die Arbeit am Inklusionspapier für HEKS zeigte: Die Menschen sind unterschiedlich fähig, ihren Beitrag zur Teilnahme an der Gesellschaft zu leisten, sie brauchen daher unterschiedliche Unterstützung.

Hat die BFH die Erwartungen von HEKS erfüllt?
Vladović: Dank der BFH-Analyse haben wir jetzt eine solide Grundlage für unsere zukünftige Arbeit. Die definierten Kriterien weisen uns die Richtung für die Entwicklung neuer Projekte und die Weiterentwicklung bestehender Programme. Gleichzeitig hat uns der Prozess gezeigt, dass vieles schon in Bewegung ist und es darum geht, den eingeschlagenen Weg weiterhin zu beschreiten.
Würden Sie anderen Organisationen empfehlen, sich auf einen solchen Prozess einzulassen?
Vladović: Ja. Der externe Blick kann helfen, interne blinde Flecken aufzudecken. Organisationen, die diesen Weg gehen möchten, sollten sich ein klares Ziel setzen, was sie mit der Analyse erreichen wollen. Dennoch sollten sie offen für Unerwartetes bleiben, denn im Laufe des Prozesses tauchen oft neue Fragen auf. Hier braucht es Flexibilität, da man sicherlich auch Spannungsfelder entdeckt – zum Beispiel Aspekte, die in der Theorie wichtig sind, jedoch nicht sofort wie gewünscht umgesetzt werden können. In der Praxis gibt es selten einfache Lösungen für komplexe Fragen. Es ist wichtig, dies auszuhalten, während man auf Kurs bleibt.
Warum ist es wichtig, dass sich soziale Organisationen mit dem Begriff Inklusion befassen?
Korózs: Heute wird Inklusion auch kritisiert, weil damit oft plakativ gearbeitet wird. Das HEKS-Projekt zeigte auf, dass Inklusion Substanz hat und nicht auf einen Trend reduziert werden kann. Soziale Organisationen können durch sie bessere Lösungen für soziale Probleme finden.
Wofür sich das Hilfswerk HEKS weltweit und in der Schweiz einsetzt
HEKS verfolgt die Vision einer gerechten Welt, in der die Würde aller Menschen respektiert wird, Frieden herrscht und die natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt werden. HEKS leistet einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensumstände von Menschen in der Schweiz und weltweit, fordert ihre Rechte ein, sensibilisiert und mobilisiert zu diesem Zweck Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Ziel ist eine Transformation auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene.
HEKS führt Projekte in über dreissig Ländern und fokussiert dabei auf die Schwerpunkte «Klimagerechtigkeit», «Recht auf Land und Nahrung», «Flucht und Migration» sowie «Inklusion». Zudem leistet HEKS humanitäre Hilfe bei Naturkatastrophen und kriegerischen Konflikten.
HEKS wurde 1946 als Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz gegründet. Seit 2004 ist HEKS eine gemeinnützige Stiftung. Im November 2021 erfolgte der Zusammenschluss mit «Brot für alle» zum Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz.